Schlagwortarchiv für: Rabbi

Wie bereits erwähnt, tummle ich mich seit ein paar Wochen auf der Plattform SWEEK herum, wo LeserInnen und AutorInnen sich begegnen.
Auf jener Plattform gibt es immer wieder auch Wettbewerbe, und eine der Kategorien ist die Mikro-Story: man erhält ein Schlüsselwort, zu dem man eine superkurze Geschichte von maximal 250 Wörtern schreiben soll.

250 Wörter sind wenig. Sehr, sehr wenig.

Nicht umsonst sagte Winston Churchill, einer der größten Rhetoriker des 20. Jahrhunderts:

“I’m going to make a long speech because I’ve not had the time to prepare a short one.”

(„Ich werde eine lange Rede halten, weil ich die Zeit nicht hatte, eine kurze vorzubereiten.“)

In diesem Monat ist das Sweek#Mikro-Schlüsselwort BRIEF. Lesen Sie hier, was für ein weltveränderndes Potential ein Brief haben kann …

 

DER BRIEF

Yves Patak

Sweek#MikroBrief

Ein Klopfen an der Tür. Rabbi Mordecai schaut von der Tora auf und sieht Isaac hereinkommen.
„Isaac!“ Der Rabbi studiert das gerötete Gesicht des jungen Gabbai. „Hast du —“
„Wir haben ihn, Rabbi!“
Mit glühenden Augen überreicht ihm Isaac einen Brief. Schweigend dreht der Rabbi den aufgeschlitzten Umschlag hin und her, studiert das Siegel.
„Und hier habt die Authentizität überprüft?“
Isaac nickt. „Professor Shafirov und zwei Graphologen haben ihn überprüft. Er ist echt.“
„Haben die drei — “
„ — die Geheimhaltungsverpflichtung unterschrieben? Natürlich.“
„Gut, Isaac. Lass mich jetzt allein.“
Die Tür klickt zu. Der Rabbi setzt seine Lesebrille auf. Studiert die eine, in Druckschrift geschriebene Zeile.

DEM JÜDISCHEN VOLK.

Vorsichtig zieht er den Brief hervor und liest.
Großer Gott …
In seiner ungeduldigen, nach vorn geneigten Schrift bietet Adolf Hitler dem jüdischen Volk seine förmliche Entschuldigung an.
„Ich habe mich in eine Idee verrannt“, schreibt der Führer. „Mir schien, es wäre mein Lebenszweck, dem Übermenschen den Weg zu bahnen in eine bessere Welt. Jetzt, nur Stunden vor meinem Tod, erkenne ich, dass der Gedanke Wahnsinn ist.“
Fasziniert betrachtet der Rabbi die geschwungene Unterschrift.
Das eine Dokument.
Der eine Beweis, dass Hitler in seinen letzten Momenten zur Einsicht kam.
Zu einem Menschen wurde.
Der Brief würde der Welt beweisen, dass selbst Hitler Gefühle hatte. Dass er erkannte, wie fehlgeleitet seine teuflische Ideologie war.
Die Welt würde dem Führer nie ganz verzeihen. Aber ihn vielleicht verstehen.
Langsam, genüsslich, zerreißt der Rabbi den Brief.

 

www.PatakBooks.com