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Es ist paradox. Obwohl ich seit meiner Kindheit gerne Geschichten erfinde und Seemannsgarn spinne, habe ich noch nie ein Tagebuch geführt. Ich korrigiere mich: Während meiner Zeit als Unterassistent in Kingston, Jamaica, kritzelte ich manche Zeile in ein Tagebuch. Eine Premiere und eine ziemlich spezielle Erfahrung, aber offenbar keine, die mich dazu verführte, dem Tagebuch treu zu bleiben. Soviel zum psychologischen Verdauungsprozess durch schreiben.

Und da sitze ich nun vor dem Laptop und schreibe ein Blog. Ein Web-Log. Ein Cyber-Logbuch, in dem man den  Spaziergang über die Rasierklinge riskieren soll: Hochtrabende Tipps und Ratschläge (autsch!) verteilen, oder einen Seelenstriptease bis auf die Knochen wagen. Beides nicht die reizvollsten Gedanken.

Spaziergang über die Rasierklinge

Doch jetzt, wo ich mich auf dieses neue Abenteuer eingelassen habe, findet eine Metamorphose statt. Es ist das seltsame, irgendwie anregende Gefühl, für ein unsichtbares Publikum zu schreiben. Für Menschen, die ganz allmählich aus der virtuellen Wolke auftauchen, sich materialisieren, real werden – und mit mir in Verbindung treten. Und auf einmal geht es um das brutale Thema der Selbsterkenntnis. Bin ich A) ein Strassenkünstler, der sich mit der Violine an eine Strassenecke stellt und versucht, den Saiten ihre schönste Melodie zu entlocken – und plötzlich feststellt, dass ein Publikum seiner Musik lauscht? Oder B) eine jener skurrilen Gestalten, die im Park auf eine Bananenkiste stehen und mit dem Megaphon am Mund den Weltuntergang verkünden?

Jeder findet seine Gruppe

Vielleicht spielt es keine Rolle. Weil jeder seine Gruppe findet. Frei nach dem Prinzip der Resonanz. Womöglich ist es belanglos, dass das Schreiben für ein noch weitgehend unbekanntes Publikum eine Form des Wahnsinns ist. Wie soll man das schon selbst beurteilen? Und wer weiss, vielleicht möchtet ihr mich dennoch begleiten … in Schattenwelten, wo der Wahnsinn schlicht dazugehört. Wo alles passieren kann. Vielleicht teilen wir diese spezifische Neigung.

Nicht jeder tut dies. Menschen, die Liebesromane lesen oder sich den „Förster vom Silberwald“ reinziehen, können diese befremdliche Veranlagung kaum verstehen — das Verlangen, die Gefahr, das Gruselige, das Unnennbare zu suchen. Mit der Kerze in der Hand in den Keller zu schleichen und nachzuschauen, woher das seltsame Klopfen und Flüstern kommt. Doch ein Teil in mir ist überzeugt, dass auch eine solche unerklärliche Veranlagung ihren Sinn hat. Dass viele Menschen das Bedürfnis fühlen, sich mit dem Grauen auseinanderzusetzen. Um es kennenzulernen, und sich – vielleicht – eines Tages mit ihm zu versöhnen. Es als Teil des grossen Ganzen zu akzeptieren, als Aspekt des kosmischen Yin und Yang.

Die Tür steht offen

Meine Metamorphose vom Arzt zum Schriftsteller schreitet fort. Natürlich werde ich auch meine Beratungen, mein Coaching mit Freude fortführen. Aber die andere Stimme ist immer da. Geduldig. Beharrlich. Sie fordert mich auf, immer wieder nach der Kerze zu greifen, in den Keller zu gehen, über knirschende Stufen. Denn dort unten sind Türen. Unendlich viele Türen. Die einen stehen offen. Andere sind Kerkertüren, verriegelt, staubig, abweisend – und unwiderstehlich.

Es ist schön, dass ihr mich ein Stück des Weges begleitet. Denn zusammen sind wir sicherer. Oder zumindest hoffe ich das.

Kommt … die Kellertür steht offen!