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Ist der Schriftsteller Schöpfer oder nur ein Sprachrohr seiner Muse? Darüber scheiden sich die Geister. Die Wahrheit liegt wohl wie so oft in der Mitte. Doch ohne Zweifel ist es eine erschütternde Erfahrung, etwas zu kreieren – und plötzlich vor einer Kreatur zu stehen, die einem eine Gänsehaut über den Rücken jagt.

Da sitzt man am Laptop, versinkt in fremde Dimension, in jene Welten, die man sich gerade ausdenkt, die man zu bewusst zu kreieren glaubt  – und dann geschieht es.

Etwas gerät ausser Kontrolle.

Plötzlich stehen wir mit weit aufgerissenen Augen da, als hätten wir soeben einen Autounfall miterlebt. Genau so fühlte ich mich, als ich eine Szene in meinem ersten Thriller ‚The Healer‘ (zur Zeit in Revision) schrieb. In Al Qatrun, einem Kaff mitten in der libyschen Wüste, wird Sharan, ein Mädchen mit einem übernatürlichen Talent, Opfer einer Hexenjagd. Das Drama spitzt sic zu, und die (nicht besonders liebevolle) Mutter der Heldin raunt dem Vater zu, dass es besser wäre, die kleine Sharan zu töten, bevor die abergläubische Meute der Dorfbewohner die ganze Familie lyncht.

„Töte unsere Tochter!“

Man halte kurz inne. Versetze sich in die Haut Vaters. Seine Ehefrau – kann man es fassen? – fordert ihn auf, die eigene Tochter vorsorglich zu ermorden! Wut erfasst ihn. Das Blut kocht ihm in den Adern. Er hebt die Hand, verpasst der feigen, herzlosen Ehefrau eine vernichtende Ohrfeige. Sie stürzt, spuckt zwei Zähne aus, wischt sich das Blut vom Gesicht, starrt schockiert zu ihrem Ehemann empor …

Ich schrecke aus meiner Schreib-Trance hoch. Sehe die Frau mit dem blutigen Gesicht auf dem harten Boden liegen. Habe ich das geschrieben? Habe ich ihr das angetan? Natürlich. Natürlich nicht. Es … es floss einfach durch mich hindurch. Ich fühlte die hilflose Wut des Vaters. Fühlte meine eigene Überforderung, mit einer Situation umgehen zu müssen, die es nie hätte geben dürfen. Fühlte den unerwarteten Hass auf eine Ehefrau, die sich schon seit Jahren von mir entfremdet hat.

Doch jetzt, wo sie so jämmerlich und fassungslos auf dem Boden liegt, fühle ich … was? Mitleid? Ein schlechtes Gewissen?

Ich fühle mich beobachtet. Fühle die verurteilenden Blicke meiner Leser, die ich eben noch gar nicht wahrgenommen hatte. Doch jetzt sind sie da, stehen um die Frau herum, murmelnd, tuschelnd. Vorwurfsvolle Blicke streifen mich.

Weg, hinweg mit euch! Ich setze mich an den Laptop und lösche die ganze Szene. Schreibe sie neu. Der Inhalt ist ähnlich. Die Ohrfeige verdient. Aber sie ist etwas schwächer. Etwas … stimmiger. Es gibt kein Blut. (Nicht hier, nicht jetzt – davon gibt’s im Rest des Romans noch genug). Der Vater hat wortlos erklärt, was er von der heimtückischen Viper, die er Ehefrau nennt, hält. Er dreht ihr den Rücken zu und geht. Er hat einen Plan. Heute Nacht noch wird er mit Sharan durch die Wüste fliehen.

Immer noch sitzt mir  der Schreck in den Knochen, meine Wangen sind warm von der Scham. Wie konnte ich so brutal sein? War das überhaupt ich?

Es ist einer jener M0mente, in dem man versteht, wie falsch die LeserInnen oft liegen, wenn sie denken, dass der Schriftsteller seine Worte genau plant. Dass alles einer Absicht entspricht. So ist es nicht, nicht immer zumindest. Etwas geschieht. Etwas gerät ausser Kontrolle.